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LaubAhnen suchen
Erfahrungen mit dem Vollmond-Ahnen-Feuerritual,
geleitet von Erich Haretzmüller
vom 20. – 22. September 2002 in Semriach

 “Mögen alle meine Fehler sich auf ihre Plätze begeben
und möglichst wenig Lärm dabei machen.”
Inuit

 So viele fremde Worte, die mir wenig sagen. Ich hatte bis vor wenigen Wochen keine Vorstel­lung davon, was ein Schrein ist, und hielt es eher für eine Art Kasten, Stichwort Reliquien­schrein, für etwas, das der Schreiner mit handwerklicher Kunstfertigkeit herstellt. Es muss auch in unserer Kultur etwas Wichtiges und/oder Alltägliches gewesen sein, wenn es einem ganzen Berufsstand seinen Namen gibt.

Ein paar klapprige Tische, Lattenroste eines ausgemusterten Bettes, 16 Paar Hände und ein Sammelsurium konstruktiver Ideen, und binnen einer knappen Stunde wird aus einer Rumpel­kammer ein Ritualraum. Rote Tücher, farbiges Krepppapier, viele rote Kerzen, Bilder unserer Vorfahren, Steine, Symbole, und es steht das, was wir den Ahnenschrein nennen, dem Element Feuer zugeordnet.

So viel Unbekanntes. Elemente, in dieser Teilung nie gekannt: Feuer, Erde, Wasser, Mineral, Natur … weitere, kleinere Schreine entstehen, um auch den anderen Elementen Ort und Ehre zu geben. Unser Geburtsjahr entscheidet, welchem Element wir zugeordnet werden.

Auf die Frage: „Was empfehlen Sie uns im Westen, die wir nicht auf diese Weise in Kontakt mit unserer Lebensaufgabe gekommen sind (durch eine Initiation; anm.)?“, antwortete Malidoma Somé:

„Mit verschiedenen Ritualen experimentieren. Auch dann, wenn Sie nicht das erfahren haben, was ich beschrieben habe, gibt es einen Teil in Ihnen, der ritualbewusst ist. Wenn Sie weit genug in Ihre Vergangenheit zurückgehen, dann begegnen Sie Ahnen, die sehr viele Kenntnisse über Rituale haben. Das wäre ein sicherer Ausgangspunkt. Die Dagara können nicht die Initiation im Westen einführen. Das wäre umgekehrter Kolonialismus. Sie möchten Freundschaft mit Ihnen.“

  Aus „Die Rolle der Ahnen in Heilungsritualen der Dagara-Tradition –
zu den Workshops von Malidoma Somé, Ph. D.“ von Manfred Weule in
„Verkörperungen – Systemische Aufstellung, Körperarbeit und Ritual“, Carl-Auer-Systeme Verlag

SchachtelhalmZuerst kommt das Begreifen, dann die Bedeutung. Zuerst die sinnliche Erfahrung, dann ihre Ablösung vom Konkreten, um sie (mit-)teilbar zu machen. Beim Aufbau der Schreine habe ich begriffen, dass wir hier etwas errichten, dass ich mit meiner katholischen Sozialisation als Altar oder Herrgottswinkel bezeichnen würde. Beim Versuch, das Tun zu (be-)deuten, wird mir klar, dass dies keine Altäre sind, auf denen einem Gott etwas geopfert wird. Und wo immer einem Gott etwas geopfert wird, ist es zu aller erst die Verbundenheit mit den Menschen, die nicht an diesen Gott glauben. Altäre trennen. Um die kleinere Gemeinschaft durch den gemeinsamen Kniefall zu verdichten, wird der Preis der größeren Nicht-Gemein­schaft entrichtet.

Nein, Altäre sind das nicht. Schreine… das Wort sagt mir noch immer nichts. Ich stelle das Bild mit meinen Ahnen auf den roten, den Feuerschrein. Habe dieses Bild eigens angefertigt, Fotos meines verstorbenen Vaters, meiner Großmutter und meines Großvaters mütterlicher­seits eingescannt, auf einem Blatt nebeneinandergestellt, computertechnisch optimiert, ausge­druckt und gerahmt – im Bemühen, nicht einfach irgendwelche Bildchen zusammen zu sammeln und hinzustellen, sondern schon vorher durch die Beschäftigung mit diesen Ahnen ihnen näher zu kommen. Da steht es nun, und es wirkt kalt und fremd auf mich in seiner aufgehübschten Glätte, viel zu viel knalliges Weiß auf dem Rot, eine abgesonderte Insel, auf die ich meine Ahnen verbannt habe. Auf die Idee, sie wieder auszuschneiden und wie die Ahnen­bildchen der anderen in das Gewusel der Portraits und Gegenstände zu mischen, komme ich auch nicht.

Wir bauen Masken. Während mir Gipsbinde um Gipsbinde auf das widerlich eingefettete Gesicht gelegt wird, verschwindet die Welt. Eine härter werdende Schale trennt mich, auch die anfangs noch spürbare, zärtliche, formende Berührung entfernt sich und wandelt sich zu einem kratzenden Geräusch. Wenn meine sinnliche Wahrnehmung der Welt so massiv beschränkt ist, wie nehme ich mich wahr? Mit verinnerlichtem Blick? Im Gegenteil – je verfestigter die Abgetrenntheit ist, desto mehr verliere ich mich, und es ist eine Erlösung, endlich die Maske abnehmen zu dürfen. Wie wichtig es mir ist, die Welt zu sehen, von ihr berührt zu werden, sie auf der Haut zu spüren…

Ich bin böse auf meine Maske, mag sie nicht mit Farben aufwerten, schon gar nicht schmücken. Ich schneide die modellierten Nasenlöcher zu einem großen Nasenkrater auf, ersetze die Augen durch einen breiten Sehschlitz. Unbekannt erscheint sie mir nicht, diese Maske… was sie verdient hat, sind Spuren. Ich schattiere sie mit dem Ruß einer Kerzen­flamme, das Grau lässt sie noch kälter, technischer werden, dem Antlitz eines Roboters ähnlich. Wachstropfen der roten Kerze, wie ein Ausschlag verteilt, wie die Pockenpusteln eines Unberührbaren, aber auch ein Zeichen von Leben. Roboter haben keinen Ausschlag. Und ich weiß nun auch, warum ich nicht beim ersten Impuls geblieben bin, die Maske unberührt zu lassen, weiß. Es wäre eine Totenmaske gewesen. Diese hier ist die Maske eines Lebenden, zerschunden, grau(slich), wie jeder Panzer, wie jede Rüstung Schutz und Hinder­nis, und vor allem: So kann ich sie nehmen. Ohne Stolz, ohne Verachtung, einfach nur nehmen. Und sie ablegen. Zu den anderen. Wenn ich sie brauche, um durchs Feuer zu gehen, wird sie bereit sein. Wenn ich sie nicht brauche – um so besser. Es ist nur eine Maske, es ist nichts, was vorgibt, ich zu sein.

Am nächsten Tag dann das Ahnenritual. Ein Aschenkreis grenzt den Ritualplatz vom Umfeld – dem „Dorf“ – ab. Wir singen das Preislied der Ahnen, von drei Trommeln untermalt, von denen eine ich schlage.

Kurzer Exkurs: Das Dorf… mir erschien die Zeit außerhalb der expliziten Seminarblöcke als das eigentliche Dorf, als der „Alltag“ dieser Seminartage. Miteinander essen, trinken, lachen, Persönliches reden, sich zur Ruhe zurückziehen – und im Kontrast dazu das Rituelle, wenn die Rederassel im Kreis liegt, wenn die Ahnen angerufen werden.

Trommeln, Rhythmen, die sich überlagern und das auch dürfen, weil die afrikanische Rhythmik eh eine polyrhythmische ist, Stimmen intonieren das Mantra des Ahnenpreisliedes, die Ersten gehen vor, tanzen vor dem Schrein, greifen zu ihren Masken, ich trommele. Ich trommele 1 ½ Stunden lang, zwischendurch versuche ich einmal, die Trommel unter den Arm zu klemmen und mich dem Schrein, den Ahnen anzunähern. Es ist, als wären mir meine Füße im Weg, als wäre mein Auftrag einzig und allein, am rhythmischen Teppich mitzuweben, auf dem die anderen sich im Tanz mit ihren Ahnen verbinden dürfen. Ich schaue auf mein Ahnen­bild, diesen hässlichen weißen Fleck am Rande des Schreins, ich warte auf eine Empfindung, auf etwas, das sich ereignet und als „Begegnung mit den Ahnen“ identifizieren ließe … nichts. Nur Wut kommt hoch, ich trommele, dass die Handflächen heiß zu brennen beginnen, Traurig­keit… und dann ist es vorbei. War es das? Der Schrein, groß, verzweigt, rot, wirkt wie eine Mauer, die mich abgewiesen hat. Als hätte sich die Maske über den ganzen Schrein ausgedehnt.

Am Nachmittag Regen in Strömen, lange Ruhepause und ein frustiges Gefühl. Trotz. Traurig­keit. Wie komme ich dazu, dass sich mir die Ahnen verweigern? Und dazu eine große Ratlosig­keit: Wie kann ich mir das überhaupt vorstellen, Kontakt mit den Ahnen? Ich höre die anderen erzählen, höre ihre Sprachchiffren, aber mir fehlt jegliches Bild dazu. Worte, Fremdworte. Ahnen – gestorbene Verwandte. Hellinger kommt mir in den Sinn: Wir sind nicht WIE unsere Eltern, wir SIND unsere Eltern. Unsere Eltern sind deren Eltern… wir sind weit nach hinten verbunden, verwurzelt… und wann immer jemand aus diesem Fluss ausge­blendet ist, fehlt uns ein Stück, und wenn uns etwas fehlt, sind wir krank. In der Prozessarbeit der Aufstellungen kommen mir diese Ahnen berührend nahe. Vor dem roten Schrein lassen sie mich allein. Lasse ich sie allein?

 

Später dann wieder eine Rederasselrunde. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe, war jedenfalls eher niedergeschlagen, missmutig und wenig geneigt, in den nasskalten Abend hinauszugehen, aber… Gruppendruck kann auch Gruppenstütze sein. Oder hat da wer gerufen?

Dämmerung, der Weg hinunter zum Feuerplatz. Nasse Erde, rutschige Steine, der Wald, in dem es noch weiterregnet, während der Regen wieder aufgehört hat. Feuersalamander, viele Feuersalamander, die unseren Weg kreuzen, als seien sie zu einem anderen Tanz geladen, der parallel zu unserem stattfindet. Das Gehen tut gut, die Entfernung Schritt um Schritt weg vom Haus, hinein in den Wald, in die Natur. Die anderen Geräusche, das Rauschen des Baches, die saugende, morastige Erde, die Dunkelheit, die Gruppe der Gehenden bekommt eine andere Identität, wird dichter, energiegeladener in diesem Umfeld.

Weitere Bewegung, der Aufbau der Holzstöße, wieder etwas bauen, gemeinsam bauen, dann die Fackeln im Kreis, das Entzünden der Feuer… und seit dem Aufbruch vom Haus alles wie ein Aufatmen, mit jedem Atemzug mehr. Positive Energie, gute Gestimmtheit, Lust am Tun, und endlich Feuer. Wirkliches Feuer. Kraftvoll, heiß, wabernd, bewegend. Feuer, das lebt.

Und das Gefühl, das Empfinden, die Ahnung aus diesen Flammen heraus, die mich an die Geschichte erinnert, die Paul Watzlawick in den „Anleitungen zum Unglücklichsein“ erzählt, jene von dem Betrunkenen, der seinen Hausschlüssel im Licht der Straßenlaterne sucht und auf die Frage eines Passanten, wo er ihn den verloren habe, antwortet: „Da drüben in der Dunkelheit … aber hier seh ich besser beim Suchen!“

Mein Bild am Ahnenschrein, diese Hochglanzversion der drei nächstgelegenen Verstorbenen, das ist das Scheinwerferlicht, das ich auf die Ahnenkette gerichtet habe, um zu suchen. Und nun, aus der Dunkelheit des Waldes und des wolkenverhangenen Himmels, hinter dem der Vollmond ist, aus der regentrunkenen Erde und dem Murmeln des Baches steigen sie auf, spüre ich sie in nicht zu nennender Zahl, die Ahnen. Nicht vereinzelt, nicht als zu benennende Wesen, nicht geschaut und nicht gehört, eher verbunden, vereint.

Die Familienkette, die faszinierende Vielfalt der Vorfahren der Vaterlinie, die mir vor einem Jahr beim Siedeln in einem Manuskript einer Cousine meines Vaters in Form einer spannend zu lesenden Chronologie in die Hände gefallen ist, „zufällig“, da sind die Ahnen zu mir gekommen. Und nach einer kurzen Weile der Freude wieder in den Hintergrund getreten im Alltag, fast schon wieder vergessen, so sehr, dass ich sie am Ahnenschrein weder ins Bild genommen noch bewusst im Symbol eingeladen hatte. Die Vorfahren mütterlicherseits, die von Prag über Banja Luka und das windische Kärnten bis in die Weststeiermark das bunte Bild des Vielvölkerstaates vereinen und in denen ich gern bin, wenn es so ist, dass wir unsere Vorfahren sind.

Hier, in der Natur, sind sie da wie die Stämme der Bäume, wie die Zahllosigkeit der Blätter, frisch wie die Regentropfen, und mit ihnen Viele und Vieles. Ich finde einen Stock, der mir wichtig ist, auf den ich mich stützen kann (und erfahre am nächsten Tag von einer Teilneh­merin, dass genau dieses Bild von mir, in roten Jeans und rotem Pullover auf diesen Stock gestützt, etwas für Sie ganz Wesentliches verkörpert hätte).

Eine breite Skala von Gefühlen, Empfindungen tut sich auf. Traurigkeit, Einsamkeit, Verlas­sen­heit, die Gemeinschaft des gesungenen Mantras, Hände ergreifen, die einladen, Blicke aufnehmen, spiegeln, Freude, die Nähe der Flammen, die Gluthitze… alles hat seinen Platz und wurzelt in gutem Boden.

SchwemmholzBündel, in denen Wünsche, Beschwörungen versammelt sind, fliegen ins Feuer, ihm übergeben zur Transformation.

Ich umrunde die Feuerstellen, in Achterschlingen einer Lemniskate, dem Zeichen von Unend­lichkeit, gedreht wie ein Möbiusband, in dem oben unten wird und innen außen, wenn man nicht stehen bleibt, sondern sich entlang des Weges weiterbewegt. Wenn die Hitze an einem Feuer unerträglich wird, weitergehen, am nächsten wird die Innen- zur Außenseite.

Schließlich der Glutteppich, ausgebreitet für die, die ihn beschreiten wollen. Es ist mir wichtig, auch diesen Weg zu gehen. Es ist eine andere, sanfte, tragende Seite des Feuers, und es ist Vertrauen in das Tragende, das hier an diesem Feuerplatz zu mir gekommen ist. Und es ist nicht allein der Glutteppich, es ist das nasse Gras unter den Fußsohlen, die weiche, kühle Erde (und, überrascht sehe ich: als ich später Schuhe und Socken ausziehe, sind die Füße sauber…). Es ist eine Verbundenheit mit dem, was ist, eine tiefe Verbundenheit, in der die Glut keine Haut verbrennt und die nassen Füße keinen Schnupfen bringen. Und es sind die Menschen, es ist „das Dorf“, das umarmt, auf die Schultern klopft, aufnimmt, dem erlebten Außergewöhnlichen seinen Platz und seine Heimat ihm Gewohnten gibt und auch dieses dadurch transformiert.

Der Weg zurück, aus der Natur in die Häuser, eine gute Nacht und ein Vormittag mit einer letzten Rederunde, das Abbauen der Schreine… ruhiges, gelassenes Ausklingen.

Was es war? Es ist zu früh, über einen Weg zu schreiben, der gerade erst begonnen hat. Die Rituale der Dagara haben sich für mich offenbar als Katalysator gezeigt, der andere Wege erschließt. Mehr denn je hat sich der Seelenwelt der Ahnen die Welt der Natur zugesellt. Der Appetit auf den weiten Raum, auf Rituale in der Natur ist gestiegen. „Mit verschiedenen Ritualen experimentieren“ – und ich bin neugierig geworden auf jene, die in unseren Kreisen wurzeln. Auf die Lieder der Wölfe und Druiden, auf Kobolde, Elfen und Feen. Ich stehe vor der mir noch unerschlossenen, faszinierenden Weltsicht der nordamerikanischen Indianer, geboren im Mond der großen Winde, mit dem Puma als Totemtier, Angehöriger des Clans der Frösche… und immerhin war einer meiner Ahnen im 18. Jahrhundert der Begründer eines esoterischen Zirkels in Thüringen…

Die Welt ist wieder weit geworden an diesem Wochenende. Weite Räume in der Zeit, im Denken und im Fühlen, und das Wissen, nicht allein zu sein.

“Steht nicht an meinem Grab und weint, ich bin nicht da, nein ich schlafe nicht. Ich bin eine der tausend wogenden Wellen des Sees. Ich bin das diamantene Glitzern des Schnees. Wenn ihr erwacht in der Stille am Morgen, dann bin ich für euch verborgen. Ich bin ein Vogel im Flug, leise wie ein Luftzug. Ich bin das sanfte Licht der Sterne in der Nacht. Steht nicht an meinem Grab und weint, ich bin nicht da, nein ich schlafe nicht.”
Lakota

 

“Ich  bin das Land. Meine Augen sind der Himmel. Meine Glieder sind die Bäume. Ich bin der Fels, die Wassertiefe. Ich  bin nicht hier, um die Natur zu beherrschen oder sie zu nutzen. Ich bin selbst Natur.
Hopi

 Jakob Ehrhardt, im September 2002